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Version vom 28. September 2007, 10:29 Uhr

Begriffsklärung

Geschichtsbewusstsein kann verstanden werden

1. als Bewusstsein von der Geschichtlichkeit jeder menschlichen Existenz, menschlicher Kulturen und Institutionen und menschlicher Erkenntnis

2. als Geschichtsbild, das man von der Menschheitsgeschichte insgesamt hat,

3. als geschichtliche Erinnerung einer Kultur, einer Gruppe oder eines Einzelnen.


Geschichtsbewusstsein in diesem dritten Sinne ist Gegenstand dieses Artikels.

Das Geschichtsbewusstsein des Einzelnen ist entscheidend durch sein Umfeld geprägt, das seinerseits von Erfahrungen und Interessen durch Wertungen und Wahrnehmungseinschränkungen bestimmt ist.

So war es für die Europäer, die Afrika und Amerika für sich entdeckten, aufgrund der Erfahrung ihrer militärischen Überlegenheit und ihrer christlichen Tradition nicht möglich, den Eigenwert der Kulturen, die sie kennenlernten, zu erkennen. Anpassung an ihre eigene Kultur und Ausbeutung für ihre eigenen ökonomischen Ziele zu erzwingen, erschien daher als ein Lernangebot an die "Wilden" und wurde nicht als Zerstörung einer fremden Kultur erlebt, weil deren Vorgeschichte nicht Teil des eigenen Geschichtsbewusstseins war.

Demgegenüber war es nicht im Bewusstsein der Chinesen, die noch vor den großen iberischen Entdeckungsfahrten mit einer hundertmal größeren Streitmacht Ostafrika erkundeten, dass sie in Konkurrenz zu einem tendenziell weltumspannenden Unternehmen der Europäer standen. So erschien nach der Feststellung, dass die eigene Kultur den fremden weit voraus war, die Konzentration auf den Mauerbau gegen die Barbaren und demzufolge die Zerstörung der Hochseeflotte durchaus rational. (vgl. Zheng He)

Schließlich unterscheidet sich das heutige europäische Geschichtsbewusstsein vom nordamerikanischen dadurch, dass es von teils recht kleinen Nationalstaaten geprägt ist, andererseits auch außerhalb der historisch gebildeten Schicht der Geschichte vor 1650 einen weit breiteren Raum zumisst, da historische Zeugnisse aus der frühen Neuzeit und dem Mittelalter zur allgemeinen Lebensumwelt gehören.

Das Geschichtsbewusstsein in Europa stärker auf die Gemeinsamkeiten der europäischen Geschichte auszurichten oder in Nordamerika das Bewusstsein von der präkolumbischen Vorgeschichte des Subkontinents zu stärken, bedürfte einer Anstrengung, der Geschichtspolitik.

Auswüchse der Geschichtspolitik sind insbesondere in totalitären Staaten festzustellen, die von der ideologischen Verzerrung bis zum Versuch der damnatio memoriae, der Beseitigung jeglicher Überlieferung zu unerwünschten Personen und Vorgängen, reichen.

Demgegenüber ist Geschichtsdidaktik darauf ausgerichtet, ein möglichst vollständiges, differenziertes und multiperspektivisches Geschichtsbewusstsein zu entwickeln. Dies geschieht einerseits im Geschichtsunterricht, andererseits in anderen volkspädagogischen Unternehmungen, etwa in der Museumspädagogik.

Dimensionen des Geschichtsbewusstseins

In diesem Zusammenhang sind von Pandel (sieh: Lit.) sieben Dimensionen des Geschichtsbewusstseins herausgearbeitet worden, die alle zu entfalten seien:

1. Zeitbewusstsein (Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und die historische "Dichte" (Ereignissättigung) einer Zeit (z.B. 1933-45));

2. Wirklichkeitsbewusstsein (Gefühl für real und fiktiv);

3. Historizitätsbewusstsein (Bewusstsein von Geschichtlichkeit, statisch - veränderlich);

4. Identitätsbewusstsein (Bewusstsein von Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Fähigkeit, dies auch für andere zu berücksichtigen);

5. politisches Bewusstsein (Einsicht in Herrschaftsstrukturen und Interessenlagen);

6. ökonomisch-soziales Bewusstsein (Erkenntnis sozialer und ökonomischer Ungleichheit);

7. moralisches Bewusstsein (Fähigkeit zur Rekonstruktion damaliger Werte und Normen, ohne in vollständigen Relativismus zu verfallen und das eigene Urteil ganz abzulegen).

Man könnte dem ein Relativitätsbewusstsein hinzufügen, ein Bewusstsein davon, dass Geschichte immer aus einer besonderen Perspektive wahrgenommen wird (z.B. von Herrschenden und Beherrschten, von Reich und Arm, von Einheimisch und Fremd, Innen und Außen) und die Fähigkeit, sich in diese Perspektive einzudenken. Dabei spielen heute die Geschlechts- und die Minderheitenperspektive eine besondere Rolle.

Klaus Bergmann fügt noch eine achte Dimension an, das Geschlechtsbewusstsein. Es ist das Bewusstsein dafür, wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern geregelt war.

Raum-Zeit-Horizont

Ins historische Bewusstsein kann nur geraten, was nicht außerhalb des Raum-Zeit-Horizonts liegt. Der war im Altertum aufgrund des guten Nachrichtenwesens für die Herrscher oft weiter als im europäischen Mittelalter, doch bis zur Neuzeit nie größer als in der Blütezeit des Mongolenreichs. Mit dem neuzeitlichen Nachrichtentechniken weitete er sich zunächst für die Herrschenden, darauf für die Bevölkerung immer mehr, bis in die Gegenwart, wo die Nachricht vom Angriff auf das World Trade Center manchem russischen Arbeiter in Sibirien früher bekannt war als dem Präsidenten der USA.

Mit Ausdehnung des Bewusstseins von Gleichzeitigkeit der Weltgeschichte über die gesamte Erde wird es immer wichtiger, nicht der Fiktion zu verfallen, es hätte früher auch einen zusammenhängenden Geschichtsraum gegeben.

Literatur

  • Bernd Faulenbach/Annnette Leo/Klaus Weberskirch, Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland, Essen : Klartext, 2000, 3-88474-757-6
  • Pandel, Hans-Jürgen: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen, In: Geschichtsdidaktik 12, 1987, H. 2, S.130-142
  • Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall , Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Fischer (Tb.), Frankfurt am Main 2002, ISBN 3596155150on
  • weitere Titel

nl:Historisch besef